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Wie kann man den strukturellen Hürden effektiv begegnen?
Was ist „Bewegung auf Rezept“?
Grundsätzlich hätten in den meisten deutschen Bundesländern ÄrztInnen bereits jetzt die Möglichkeit, ihren PatientInnen präventiv oder als zusätzliche Behandlungsmaßnahme ein „Rezept für Bewegung“ zu verschreiben. Die gesundheitsförderlichen Effekte von regelmäßiger Bewegung sind gut belegt und können entscheidend die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung sowie den Verlauf vieler Erkrankungen verändern. Dennoch sind die meisten deutschen Erwachsenen körperlich nicht ausreichend aktiv. Wie das Verordnen von Medikamenten, können ÄrztInnen auch Bewegung verschreiben und ihren PatientInnen auf diese Weise eine schriftliche Empfehlung für mehr körperliche Aktivität und ein Training mit einem bestimmten Schwerpunkt geben. Aus einer gemeinsamen Initiative der Bundesärztekammer, der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP) und dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) ist das „Rezept für Bewegung“ entstanden. Die verschriebene Bewegung kann sowohl präventiv als auch kurativ eingesetzt werden. Darüber hinaus bietet das Rezept eine Orientierungshilfe bei der Suche nach qualifizierten Bewegungsangeboten in der Region.
Welche Hürden gibt es beim Einsatz des Rezepts für Bewegung?
Untersuchungen zum Bekanntheitsgrad, zur Anwendung und den Barrieren bei der praktischen Anwendung zeigten, dass das Rezept für Bewegung nur gut einem Viertel der befragten ÄrztInnen in Bayern bekannt war (Curbach et al., 2014). Die ÄrztInnen, die Bewegung auf Rezept kannten, verschrieben Bewegung in den meisten Fällen nur selten (22%) und nur ca. 8% gaben an, dieses Rezept häufig bis sehr häufig auszustellen.
Barrieren der Anwendung waren auf ärztlicher Seite zunächst Wissen zum Rezept sowie die Einstellung zur Wirksamkeit. Über die Hälfte (65%) fühlte sich schlecht informiert.
Ähnlich viele ÄrztInnen (58%) benannten bei der praktischen Umsetzung das limitierte Angebot an lokalen Sportangeboten als hinderlich. Aus Sicht der PatientInnen gab es auch Barrieren, wie Alter oder Sprachkenntnisse, die jedoch weniger häufig genannt wurden. Insgesamt zeigte sich, dass bayrische ÄrztInnen das Rezept für Bewegung selten nutzten, um PatientInnen zu mehr Bewegung anzuregen. Vor allem ein Mangel an Informationen der ÄrztInnen und ein zu geringes Vereinssportangebot stellen Hürden für den Einsatz des Bewegungsrezepts dar.
Eine aktuelle Studie aus Baden-Württemberg (Emerich et al., 2021) zeigte eine grundsätzlich positive Einstellung der ÄrztInnen gegenüber dem Konzept „Rezept für Bewegung“. Auch wenn die befragten ÄrztInnen das Rezept für Bewegung positiv bewerteten, nannten sie auch einige Hürden. Fehlende örtliche Angebote und die fehlende direkte Kostenübernahme der Krankenkasse für die empfohlenen Bewegungsangebote wurden als hemmende Faktoren für die Ausstellung dieses Rezepts angegeben. Auch die Eigenmotivation der PatientInnen sowie die antizipierte Wahrscheinlichkeit der Umsetzung der Bewegungsempfehlung scheinen eine Rolle zu spielen.
Auch Prof. Winfried Banzer (Sportmediziner, Präsidiumsbeauftragter der DGSP und Mitglied der DOSB-Gesundheitskommission) sieht bei der praktischen Umsetzung des Rezepts für Bewegung noch hauptsächlich strukturelle und organisatorische Probleme. Als wesentlichen Bestandteil der Anwendungsproblematik verweist er vor allem darauf, dass „die Bekanntheit und Nutzung des Rezeptes immer noch auf einem bescheidenen Niveau sind“ (DOSB, 2022).
Könnte ein Fortbildungsprogramm für Ärzt*innen die Lösung sein?
Dieser Frage geht die Forschungsgruppe um Kyei-Frimpong und KollegInnen (2021) aus den USA nach. In ihrer Studie untersuchten sie, inwiefern ein Fortbildungsprogramm für ÄrztInnen einer großen Praxis für Allgemeinmedizin und funktionelle Medizin in New York das Selbstvertrauen bei der Verschreibung von Bewegung und die Rate der Verschreibung von Bewegung erhöhen kann: Exercise as medicine: Providing practitioner guidance on exercise prescription.
In dieser Studie besuchten 12 ÄrztInnen zwei Mal eine einstündige Fortbildungsveranstaltung basierend auf den Leitlinien des American College of Sports Medicine (ASCM). Diese beiden Schulungsveranstaltungen fanden im Rahmen eines wöchentlichen
Treffens für alle PraktikerInnen im Abstand von 2 Wochen im Januar 2020 statt. Ziel dieser Fortbildung war es, einen Werkzeugkasten mit Ressourcen zur Verfügung zu stellen, mit dem ÄrztInnen effizient Bewegung verschreiben können und ihr Selbstvertrauen beim Ausstellen eines Rezepts für Bewegung erhöht wird. Im Anschluss an die letzte Sitzung wurde der Werkzeugkasten für PraktikerInnen verbreitet und in der elektronischen Patientenakte aktiviert. Die Fortbildungsveranstaltungen umfassten Informationen über den pathophysiologischen Nutzen von Bewegung sowie die vier Hauptschritte bei der Verschreibung von Bewegung:
- Anwendung der 5As (assess, advise, agree, assist, and arrange)
- Verwendung von motivationalen Interviewtechniken
- Spezifische Handlungsrichtlinien zur Bewegungsverschreibung in Anlehnung an das ASCM (einschließlich Modus, Häufigkeit, Dauer und Intensität)
- Individualisierung der Verschreibung von Bewegung basierend auf den Komorbiditäten des/der Patient/in, der Bereitschaft und/oder Barrieren der Bereitschaft zu körperlicher Aktivität
Der Werkzeugkasten an Ressourcen enthielt eine Anpassung im elektronischen Patientenaktensystem, sodass die ACSM Guidelines hinterlegt waren und ein Informationsblatt für die PatientInnen zur einfachen Einbindung in das Patientenportal mit Übungsempfehlungen sowie einer Liste von Kursvorschlägen und Ressourcen, einschließlich Online-Übungsvideos.
Diese Fortbildungsveranstaltungen und der Werkzeugkasten führten zu einer signifikanten Erhöhung des Selbstvertrauens bei der Verschreibung von Bewegung sowie einer tatsächlich höheren Rezept-Ausstellungsrate der ÄrztInnen. Ein solches Fortbildungsprogramm kann also dazu beitragen, die Wissenslücke der ÄrztInnen und ihre Unsicherheit bei der Verschreibung von Bewegung zu verringern und das Rezept für Bewegung bekannter zu machen. Auf diese Weise könnte dem mangelnden Wissen als eine entscheidende Hürde für die erfolgreiche Umsetzung des Rezepts für Bewegung begegnet werden.
Podiumsdiskussion "Bewegung auf Rezept?!" am 17. Juni 2022 in der Universität Hamburg
Inwiefern solche „Best-Practice“ Beispiele aus dem Ausland in Deutschland etabliert werden könnten, welche weiteren Hürden und Barrieren im deutschen Gesundheitssystem existieren: darüber haben wir im Rahmen der Podiumsdiskussion „Bewegungsförderung in der Prävention – Bewegung auf Rezept?!“ am 17.06.2022 an der Universität Hamburg mit Vertreter*innen aus Gesundheitspolitik, Wissenschaft, Ärzteschaft, Vereinen und Krankenkassen diskutiert.
Dieser Artikel wurde geschrieben von Hanna Zimmel.
Literatur
Curbach, J., Schemm, A., Apfelbacher, C., Szagun, B., & Loss, J. (2014). Bekanntheitsgrad, Anwendung und Anwendungsbarrieren des innovativen Versorgungsansatzes „Rezept für Bewegung“ bei niedergelassenen Ärzten: Ergebnisse einer standardisierten Befragung in Bayern. Zeitschrift für Palliativmedizin, 15(3), PD351. https://doi.org/10.1055/s-0034-1374521
Emerich, S., Preiser, C., & Rieger, M. A. (2021). Evaluation des Modellprojektes „Rezept für Bewegung“ in Baden-Württemberg mittels explorativer qualitativer Befragung. Das Gesundheitswesen, 83(1), 24–32. https://doi.org/10.1055/a-1075-2149
Kyei-Frimpong, J., Blood-Siegfried, J., Wijetilaka, R., & Gendler, A. (2021). Exercise as medicine: Providing practitioner guidance on exercise prescription. Preventive Medicine Reports, 22, 101323. https://doi.org/10.1016/j.pmedr.2021.101323
https://www.dosb.de/sonderseiten/news/news-detail/news/mehr-bewegung-auf-rezept